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Als unstudiertes Arbeiterkind unter Akademikern

In unregelmäßigen Zügen poppt das Thema „Arbeiterkinder“ immer wieder auf, meist lasse ich es passieren. Ich mag mich selbst nicht labeln, weil ich jemand bin, der Grenzen in alle Richtungen überschreitet. Viel „von uns“ schaffen es aber nicht, den sozialen Glasdeckel zu durchbrechen.

Frau Meike hat in ihrem Text „Inside Arbeiterkind“ einige Parallelen zu mir und meinem Werdegang unbekannterweise aufgezeigt. Mir war es viele Jahre gar nicht bewusst, dass ich als Sohn eines Fabrikarbeiters und einer Servicekraft im Schnellimbiss ein Arbeiterkind wäre. Dabei sollte diese imaginäre Grenze mich in meiner Kindheit nicht nur auf dem Bildungsweg, sondern auch im sozialen Umfeld immer wieder ausgrenzen. Ich war recht gut im Sport, was dazu führte, dass ich „bei den reichen Kids“ beim Basketball ein gern gesehener Gast war. Außerhalb des Platzes endet diese Verbindung.

Ich stand mit 12 Jahren dann vor der Wahl, welche Schulform ich besuchen möchte. Die Empfehlung war Realschule mit Tendenzen Richtung Gymnasium. Ich wusste damals nicht, dass ich eine andere Auffassungsgabe habe – das sollte 20 Jahre später mehrere Tests zum Vorschein bringen. Ich habe mich gegen das Gymnasium entschieden, denn der wirtschaftlichen Konfrontation wollte ich aus dem Weg gehen. Gymnasium war für mich etwas, wo die Kinder vermögender Menschen hingehen. Wir waren nicht vermögend. „Auf der Straße“ war das was anderes, da habe ich dich sportlich gefordert und darüber Akzeptanz bekommen.

Wo ich nun auf der Realschule schimmelte, versuchte ich die Langeweile mit Grauzonen zu füllen. Es folgten mehrere Audienzen im Direktorzimmer, ein vorzeitig endender Schultag dank der Polizei, Sozialstunden und irgendwann der Ausschluss der Abschlussklassenfahrt. Letzteres war gar nicht so schlimm, da ich wusste, ich würde aus finanziellen Gründen nicht mitfahren können. Eine klassische Win-Win-Situation, die mich davor rettete, zuzugeben zu müssen, dass wir kein Geld für eine Klassenfahrt hatten.

Ausbruch Internet

Wenn mich Menschen heute kennenlernen, merken sie irgendwann, dass ich extrem viel Zeit im und um das Internet verbringe. Ich bezeichne es als meine große Liebe, denn das Internet ermöglichte es mir, aus dem sozialen Umfeld auszubrechen. Es ist Segen und Fluch gleichermaßen.

Ich habe große Lücken in der Allgemeinbildung, kenne einige Begriffe nach wie vor nicht und bin bei vielen Dingen eben das Kind von der Straße. Ich packe das Proletariat immer mal aus, wenn es nötig ist. Es ist ein wenig wie bei Kindern/Menschen, die bilingual leben oder aufgewachsen sind und man sie fragt, in welcher Sprache sie innerlich fluchen (Funfact: sie können es instinktiv benennen).

Der Segen kam Mitte der 90er, denn ich konnte im Internet mir Informationen in meiner Geschwindigkeit aufsaugen. Ich entdeckte die Vorzüge des Autodidakten für mich. Ich brachte mir HTML, CSS, PHP und MYSQL bei und schrieb mein erstes (und einziges) Content-Management-System, denn WordPress gab es zu der Zeit noch nicht. Über einen Bekannten lernte ich dann Photoshop und machte sowas wie „Webdesign“. Ich beschäftigte mich mit Conversion Optimierung, las über die Eisenberg-Brüder (u.a. „Waiting for your cat to bark?“), informierte mich über Sozialwissenschaften und psychologischen Einwirkungen auf Webseiten.

Ich schrieb über vieles, was ich im Internet sah und machte mir Gedanken darüber, wie Dinge funktionieren könnten. Das machte ich so lange bis Bildungsinstitute aka Universitäten anriefen, dass ich dort zu Gastvorträgen kommen solle oder ganze Lehrjahre (sagt man das so?) übernehmen sollte. Ich lehnte alles ab: Dozentenangebote, Vortragsanfragen auf Veranstaltungen, in Unternehmen oder Fakultäten. Bis heute. Einfach weil ich gar nicht wüsste, was ich da „schlaues“ erzählen sollte.

Zwischen den Welten

Frau Meike schreibt in ihrem Text „Einige von uns (sic!) empfinden es als Ehre, in bestimmte Kreise einzudringen, und die Ehrfurcht vor diesen Kreisen bewirkt, dass wir weniger für uns fordern.“, was am Ende das Zünglein an der Waage war, um diesen Text zu schreiben.

Ich habe durch die Schichten irgendwann alles gesehen. Das tragische Leid der Menschen, die ihr Hab und Gut veräußern müssen oder ihr Leben durch übermäßigen Drogenkonsum zerstören und jenen, die für die nächsten Generationen ausgesorgt haben – und alles dazwischen.

Ich lebe heute noch diesen Konflikt Spannungsbogen. Während ich mit Professoren über unterschiedliche Kommunikationsphänomene diskutiere, trinke ich gleichzeitig Bier mit Arbeitern. Es mag im Jahr 2023 nichts mehr Besonderes sein, es gleicht sich jedoch nicht mit meinem Selbstverständnis ab, dass ein Professor mich in seinem Fach für einen vollwertigen Gesprächspartner hält. Ich habe vor der Universität bei weitem keine Ehrfurcht mehr, dazu habe ich in zu vielen Master- und Bachelorarbeiten gesehen. Aber es ist eine Welt, wo ich nicht hingehöre.

Ich erzähle Menschen von der anderen Seite des Glasdeckels.

Foto von Avi Richards auf Unsplash

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